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Im Herbst 1999 betrat ich durch Zufall ein Haus in der Christinenstraße. Von außen war unschwer zu erkennen, daß es eines der wenigen noch unrenovierten in Prenzlauer Berg war. Als ich in den Hausflur kam, überfielen mich augenblicklich alle Gerüche, die ich in diesem inzwischen gänzlich entproletarisierten Bezirk schon ausgestorben glaubte: Bohnerwachs, Kohlen, Schweiß und Urin. Viel stärker als der Anblick der renovierten Häuser hielt mir dieses Geruchsgemisch vor, wieviel und wie schnell sich die Gegend in den letzten zehn Jahren verändert hat.
Mit der Besetzung des Bezirkes durch die Rote Armee Ende April 1945 hatte, bedingt durch die Verlangsamung des gesellschaftlichen Lebens, jene Konservierung eines Nachkriegszustandes begonnen, die durch die Mauer als Zeitgrenze bis 1989 erhalten blieb. Die Häuser waren verfallen, von den Fassaden platzte der Stuck, Balkone stürzten ab. Die Mauern wurden nur noch durch das Leben, das in ihnen stattfand, zusammengehalten. Wenn der letzte Bewohner auszog, fielen sie einfach in sich zusammen oder wurden - wie es in der damaligen Sprachregelung hieß - rekonstruiert: bis zur Unkenntlichkeit. Die Verwahrlosung aber bewahrte, vor allem in den Nebenstraßen, historische Zeugnisse - Einschüsse, alte Aufschriften über den Erdgeschoßzonen, gepflasterte Wege oder Nachkriegsschaufenster. Seit Jahren, manchmal Jahrzehnten, waren die Rolläden der Geschäfte heruntergelassen. Verblaßte Inschriften oder vergessene Schilder erzählten, was vor Zeiten hier gewesen, aber man hatte als junger Mensch keine Ahnung, wann die Gegenwart zur Vergangenheit geworden war. |